Eine steuerliche Transparenzinitiative für ein gerechtes und effizientes Steuersystem
Bereits im Jahre 1808 veröffentlichte der Heidelberger Professor Heinrich Eschenmayer sein damals Aufsehen erregendes Werk „Vorschlag zu einem einfachen Steuer-Systeme“, mit dem er die „Finanz-Regierung“ auf die Willkür und Zufälligkeit des Steuersystems seiner Zeit aufmerksam machen wollte. Und zweihundert Jahre später, im Jahr 2010, ist es wieder ein Professor aus Heidelberg, der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof, der beklagt: „Ich kann ein Recht nicht als gerecht verstehen, wenn ich das Recht nicht verstehe.“
Es sind aber nicht nur Professoren, die die mangelnde Gerechtigkeit des Steuerrechts beklagen, es sind im Grunde genommen alle Bundesbürger/innen, die ihren steuerlichen Verpflichtungen nachkommen müssen. Der Ruf nach einer durchgreifenden Vereinfachung des Steuerrechts wird überall laut. Selbst der Bundesrechnungshof, der die Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes prüft und im Rahmen seiner gesetzlichen Aufgaben den Deutschen Bundestag, den Bundesrat und die Bundesregierung bei ihren Entscheidungen unterstützt, stellte bereits im Jahr 2006 fest: „Der gesetzmäßige und gleichmäßige Vollzug der Steuergesetze ist nicht mehr gewährleistet.“
Was ist passiert? Wie konnte es so weit kommen, dass der Bundesrechnungshof als oberste Bundesbehörde und als unabhängiges Organ der Finanzkontrolle feststellt, dass es wegen der komplizierten und sich ständig ändernden Steuergesetzgebung selbst den zuständigen Sachbearbeitern nicht mehr möglich sei, sich einen Überblick über die jeweils geltende Rechtslage zu verschaffen und diese auch durchzusetzen?
Bereits im 17. Jahrhundert hat der englische Philosoph Thomas Hobbes die wichtige finanzpolitische Beobachtung gemacht, dass die Menschen sich weniger durch die Steuerlast als solche, als vielmehr durch ihre ungleichmäßige Verteilung bedrückt fühlen. Die für die Verwaltung zuständigen hohen Beamten der deutschen Fürsten, die Kameralisten, haben in Kenntnis dieses Sachverhalts ab der Mitte des 17. Jahrhunderts die Fundamentalprinzipien der Allgemeinheit, der Gleichmäßigkeit und der Leistungsfähigkeit entwickelt, um den Inhalt und die Grenzen der staatlichen Rechte zu bestimmen. Mit dem Prinzip der Allgemeinheit forderten sie eine Besteuerung ohne Ansehung der Person, und mit dem Gebot der Gleichmäßigkeit, dass alle Bürger nach gleichen in ihrem Verhältnis zum Staat begründeten Maßstab belastet werden sollten. Es waren auch die großen Autoren der Aufklärung, die mit der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit ein eigenständiges Prinzip ausformulierten und mit den Vorschlägen der Steuerprogression und der Freilassung des Existenzminimums allgemeine Akzeptanz in der Öffentlichkeit gefunden haben.
Diese in den vergangenen Jahrhunderten entwickelten Prinzipien der Besteuerung sind bis heute gültig und haben ihren Niederschlag im Grundgesetz und in den Steuergesetzen gefunden. Aus dem in Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz kodifizierten Gleichheitssatz – „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ – wird das Gebot der Steuergerechtigkeit hergeleitet, das besagt, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden müssen.
Ein Blick zurück in das 19. und 20. Jahrhundert zeigt, dass es auf deutschem Boden zwei fundamentale Steuerreformen gab, die die Gerechtigkeitsideale der Aufklärung in das deutsche Steuerrecht übernommen haben:
Der preußische Finanzminister Johannes von Miquel setzte mit der Einführung der ersten preußischen Einkommensteuergesetze von 1890/91 und 1892/93 in einem nicht unerheblichen Umfang grundlegende finanzpolitische Forderungen durch, wie sie – basierend auf den Erkenntnissen der Kameralisten – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgeschlagen worden waren. Er nannte seine Reform ein „Werk ausgleichender Gerechtigkeit“.
Zur Zeit der Weimarer Republik initiierte Reichsfinanzminister Matthias Erzberger – der sich als oberstes Ziel gesetzt hatte „Gerechtigkeit im gesamten Steuerwesen zu schaffen“ – eine umfassende Reform der Finanzverfassung und des Steuersystems. Innerhalb von neun Monaten – in den Jahren 1919 und 1920 – wurden sechzehn Steuergesetze verkündet, darunter die Reichsabgabenordnung von 1919 und das Einkommensteuergesetz 1920, beides Gesetze, die Vorbilder für Steuergesetze in vielen Ländern wurden.
Die Systematik dieser ehemals international hoch angesehenen deutschen Steuergesetze ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kontinuierlich verschlechtert worden. Dies zeigt sich u. a. am Beispiel des Einkommensteuergesetzes: Das Einkommensteuergesetz vom 29. März 1920 enthielt 53 Paragrafen, das Einkommensteuergesetz vom 21. Dezember 2019 hingegen wurde auf 195 Paragrafen aufgebläht und unzählige Male geändert. Nach den Feststellungen des Bundesrechnungshofes wurden im Einkommensteuergesetz, das für nahezu 27 Millionen Steuerpflichtige maßgebend ist, in den Jahren 2006 bis 2010 428 Bestimmungen durch 48 Gesetze geändert. „Dies bedeutet, dass das Einkommensteuergesetz im Durchschnitt alle fünf Wochen geändert wurde.“
Wenn es einer dritten Steuerreform – einhundert Jahre nach der Erzberger-Reform – gelänge, fundamentale Änderungen im deutschen Steuersystem herbeizuführen, wären der politische, wirtschaftliche und soziale Gewinn einzigartig.
In Wissenschaft, Wirtschaft und Politik sind Ende des 20. / Anfang des 21. Jahrhunderts grundlegende Reformmodelle entwickelt worden, die das Ziel haben, das Steuersystem zu vereinfachen, die Bemessungsgrundlagen entsprechend dem Leistungsfähigkeitsprinzip durch den weitgehenden Abbau von lenkungs- und verteilungspolitischen Vorschriften zu verbreitern und die Steuern zu senken. Alle Reformvorschläge haben eine Verbesserung der Lebensumstände der Menschen zum Ziel.
Jedoch: Alle seit 1950 unternommenen Steuerreformversuche sind mehr oder weniger gescheitert oder missglückt. Die Regierungen scheiterten an den Wünschen der Wähler, der Anliegen der Interessenverbände und zuletzt an der Opposition, die bestrebt war, den jeweiligen Regierungen keinen Reformerfolg zukommen zu lassen. Dies wirkte so abschreckend, dass selbst Große Koalitionen sich nicht mehr an eine Steuerreform heranwagten.
Helmut Schmidt hat in seiner 1998 erschienenen Schrift „Auf der Suche nach einer öffentlichen Moral“ Einblick in die vergangene politische Realität gewährt und gefordert, eine Steuerreform müsse „die vielen, an Gruppeninteressen orientierten legalen Steuerbefreiungen, Ermäßigungen und Schlupflöcher aller Art beseitigen. Daraus wird sich die Möglichkeit zur Absenkung der Steuersätze ergeben“. Er schreibt: „Nur wenn die politische Klasse unseren Steuer- und Subventionsdschungel endlich durchschaubar macht und ihn anschließend trockenlegt, wird sie im Ernst die Eingangs- und Spitzensteuersätze der Einkommensteuer und das Niveau insgesamt senken dürfen. Zwar wissen unsere Politiker dies sehr wohl, aber gegenüber dem Geschrei der Interessengruppen, der Verbände der Industrie, der Landwirtschaft, der Gewerkschaften usw. fehlt ihnen bisher der Mut, ihr Wissen öffentlich auszusprechen und die nötigen Konsequenzen zu ziehen.“
Da Reformen Wertentscheidungen sind, kann und sollte nach Prof. Marc Desens eine grundlegende Steuerrechtsreform nur gelingen, „wenn die Wertvorstellungen in der Reformdiskussion vollständig offengelegt werden und die politische Mehrheit von den Wertvorstellungen und Folgewirkungen überzeugt ist.“ Eine steuerliche Transparenzinitiative ist daher zwingende Voraussetzung zur Erreichung dieses Ziels, eines gerechten und effizienten Steuersystems.
Und alle großen Feuer fangen mit einem Funken an…